In der rue de la gack

Abgrund
© Karl berger 1997

Ist die kapitalistische Gesellschaft am Ende ihres Lateins? Das Imperium zerbröselt ■ Erfunden aber zutreffend ist die Hypothese, wonach die Phrase „am Ende seines Lateins zu sein“, auf die Ära zurückgeht, in der das Imperium Romanum zu zerbröckeln begann. Viele Indizien deuten darauf hin, dass der globale Kapitalismus sich in einer vergleichbaren Situation befindet. Die überlieferte Zivilisationsmatrix ist nicht mehr haltbar; der Aufstieg eines neuen Systems nicht abzusehen. Alles in allem: Die Menschheit befindet sich in der Scheißgasse.
Ein Essay von Lutz Holzinger, der noch immer seine Gültigkeit hat. Erschienen in der UHUDLA Ausgabe 95/2011   

Im kapitalistischen System ist der Wurm drin. Das unterstreichen die außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte. Sie lassen sich trotz des Einsatzes von Billionen Euro nicht zur Räson bringen. Die Spekulation geht weiter – und hat sich auf agrarische Rohstoffe ausgedehnt.
Dadurch  werden Lebensmittel für immer größere Teile der Weltbevölkerung unbezahlbar. Zum Drüberstreuen treten gehäuft Naturkatastrophen auf. Massive Indizien sprechen dafür, dass die Nachkriegs- in eine Vorkriegszeit übergeht. In Afghanistan und im Irak, in Libyen und in Syrien wird vorgehüpft, wie die Westmächte eher erfolglos versuchen, Ressourcen zu sichern.
Übrigens wurde erst vor kurzem vom englischen „Independent“ aufgedeckt, dass der Invasion des Irak intensive Beratungen von Regierungsvertretern mit Spitzenfunktionären der Ölindustrie vorausgegangen sind.
Den Einpeitschern des Neoliberalismus dürfte es in den Kram passen, dass derzeit allenthalben schwarz gemalt wird, weil damit vom Raubzug auf die sozialen Besitzstände in den EU-Staaten und der ganzen Ersten Welt sowie auf die „Entwicklungshilfe“ abgelenkt wird.
Wer schert sich angesichts dieses Umfelds schon – außer den unmittelbar Betroffenen – um die Sozialkürzungen von 25 Prozent in der Steiermark, die punktgenau die sozial Schwächsten (Arbeitslose, SozialhilfebezieherInnen und Pflegefälle) treffen, wenn in Japan Atommeiler nicht und nicht unter Kontrolle zu bringen sind.
Die Kombination der jüngsten Ereignisse ist nicht dazu angetan, Optimismus über die Zukunft aufkommen zu lassen. Selbst die Befreiungsschläge der Bevölkerung in Tunesien und Ägypten sind mit Vorsicht zu genießen, weil noch lange nicht klar ist, was dabei herauskommt und welche Kräfte schließlich die Zügel in die Hand nehmen werden.

Westliche Wertegemeinschaftskriegstreiber schwingen als Menschenrechtsverteidiger das Kriegsbeil

Dass beide Ereignisse ein Anlass für Protestaktionen in anderen Staaten Nordafrikas und des Nahen Osten waren, haben auch die westlichen Geheimdienste spitz gekriegt und Initiativen zum Sturz von Staatschefs in die Wege geleitet, die als unsichere Kantonisten gelten wie Gaddafi in Libyen und Assad in Syrien.
Seltsam, wie groß das Bedürfnis der abgewirtschafteten Altimperialisten Frankreich und Großbritannien war, sich im Feldzug gegen den Erdölstaat Libyen ins Zeug zu legen und das Kriegsbeil zu schwingen. Ihnen ist vermutlich geläufig, dass die militärische Effektivität nur im Ernstfall trainiert werden kann.
Ganz zu schweigen davon, dass der Umsatz von Rüstungsgütern  so richtig in Schwung kommt, wenn sie nicht bloß gelagert, sondern verpulvert werden. Den Kriegstreibern kommen Vorwände wie die Verteidigung der Menschenrechte gerade recht, um sich auf die strategischen Kriege der Zukunft vorzubereiten, in denen es um die Sicherung der immer knapperen Ressourcen gehen wird. Dass Rohstoffe aller Art zu einem Lieblingsobjekt der Börsespekulanten geworden sind, ist ein gefährliches Zeichen.
Schauplatzwechsel: Das Versprechen, den Hunger – zum Beispiel im Rahmen der Millenniumsziele – in der Welt zu halbieren (Warum nicht ganz abzuschaffen?), war von Anfang an ein Lügenmärchen. Dass es aber ausgerechnet im Vorjahr, dem „EU-Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“, in ganz Europa Sparprogramme gehagelt hat, zeigt in aller Deutlichkeit, was von derartigen Versprechen zu halten ist.
Selbst die Einführung des Anspruchs auf Mindestsicherung ist in Österreich nach hinten losgegangen. Neben kleinen Verbesserungen wie im Bereich der Krankenversicherung gibt es Bundesländer wie die Steiermark mit eklatanten Verschlechterungen. Die Wiedereinführung des Rückgriffs auf die Angehörigen oder die lediglich 12- statt 14-malige Auszahlung zum Beispiel.

Der Hausverstand sagt, dass die Vervielfältigung unserer Wegwerf­gesellschaft keine Zukunft hat

Den Regierenden ist das Hemd näher als der Rock. Sie bringen unfassbare Mengen von Kapital für die Bankenrettung auf  – offenkundig ein Fass ohne Boden – und lassen dafür alle sozialen Schichten bluten – abgesehen von den obersten zehn Prozent der Bevölkerung, die den Rahm des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums abschöpfen.
Neben der Reduzierung der Sozialbudgets, die gegen die Ärmsten der Armen gerichtet ist, stehen weitere Einsparungen im Bereich von Bildung und Forschung auf dem Programm. Sie richten sich gegen ganze Generationen von jungen Menschen, denen die Perspektiven auf angemessene Bildung und berufliche Entfaltung genommen werden.
Das Prekariat, das sind Werktätige mit unsicherem Arbeitsplatz und in die Arbeitlosigkeit geworfenen Menschen, wird zu einer allgemeinen Erscheinung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung. Soziologen sprechen bereits von einer Dreiteilung der Gesellschaft in den Industriestaaten: Erstens die Happy Few, die Unmengen Kohle kassieren, zweitens die mit Arbeit Überlasteten, die mehr schlecht als recht bezahlt werden; drittens die aus dem Verwertungszwang Ausgespuckten, die vom schrumpfenden Sozialstaat mit Brosamen abgespeist werden.
Mitglieder der Gesellschaft, deren Bewusstsein von der relativen Entwicklungsdynamik in der Zeit des Systemwettbewerbs zwischen Kapitalismus und Realsozialismus in den 60-er bis 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts geprägt wurde, schätzen sich heute glücklich, in diese verhältnismäßig paradiesische Periode hineingeboren worden zu sein.
Die weltweite Entwicklungsdynamik ist der Triade USA, EU und Japan weitgehend abhanden gekommen. Im Aufschwung befinden sich gegenwärtig die BRIC-Staaten. Das sind Brasilien, Russland, Indien und China. Die wirtschaftliche Dynamik dieser vier Länder geht auf forciertes Wirtschaftswachstum wie das „Programm für forciertes Wachstum“ von Brasiliens Ex-Präsident Lula Ignacio da Silva zurück.
Angesichts der fundamentalen Klima- und Energiekrise, mit der die Weltgesellschaft konfrontiert ist, erscheint das von den Politikern vielgepriesene ökonomische Wachstumsparadigma als Auslaufmodell. Den traditionellen bürgerlichen Ökonomen fällt zwar offenkundig keine Alternative ein, aber der einfache Hausverstand sagt einem, dass die weitere Vervielfältigung der Wegwerfgesellschaft keine Zukunft haben kann.
Die Reichen und Superreichen der BRIC-Staaten stehen bei allem Elend, das in diesen Ländern auf großer Stufenleiter herrscht, mit den G´stopften der so genannten entwickelten Welt bereits mindestens auf gleicher Augenhöhe. In seinem Roman „Karte und Gebiet“ ätzt der französische Erfolgsschriftsteller Michel Houellebecq, dass weltweit die teuersten Hotels und Restaurants mittlerweile primär von Russen, Chinesen und Indern bevölkert werden.
Sie sind es auch, die auf renomierten Kunstauktionen Bieter aus der alten Triade USA, Japan und Westeuropa spielend ausstechen.

Die internationale Politik und die Konzerne sind unfähig, die Vergiftung von Luft, Erde und Wasser zu stoppen

Was die brennenden Probleme auf dem Energie- und Umweltsektor angeht, erweist die Weltgesellschaft sich als unfähig, rasch und entschlossen die Weichen für nachhaltiges Wirtschaften in dem Sinn zu stellen, dass die verfügbaren Ressourcen nicht erschöpft und die Umweltgüter vernutzt werden.
Zu dem Zweck gilt es, vehement mit der Nutzung erneuerbarer Energien zu beginnen und die Umweltvergiftung von Luft, Erde und Wasser zu stoppen.
Der bereits genannte Houellebecq, alles andere als ein Marxist, schreibt in seinem jüngsten Roman: „Ganz allgemein befand man sich in einer ideologisch seltsamen Epoche, in der jeder in Westeuropa davon überzeugt zu sein schien, dass der Kapitalismus zum Scheitern verurteilt sei – und zwar sogar kurzfristig – und seine allerletzten Jahre erlebte, ohne dass es den ultralinken Parteien gelungen wäre, über ihre übliche Kundschaft von gehässigen Masochisten hinaus neue Anhänger zu gewinnen. Ein Ascheschleier scheint sich über den Geist der Menschen gelegt zu haben.“
Ist nur zu hoffen, dass in dieser Hinsicht das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

 

 

 

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