Das Elend der 68-er Generation

Lutz
© Franz HAUSNER.

Über die Deutungshoheit der Historie ■ Das Jahr 2008 beschert eine schier unendliche Kette von Jubiläen, die ebenso unnütz wie Denkmäler sind. Als viel berufene Meilensteine der Entwicklung unseres Landes verdienen sie jedoch heitere bis kritische Aufmerksamkeit.

Lutz Holzinger liefert hier ein Überblick über sowohl über­gangene als auch überzogene Zusammenhänge.

Erschienen in der UHUDLA Ausgabe 87/2008

Dass die Deutungshoheit in der Bearbeitung von historischen Fakten kein Lärcherlschaß ist, kann man den Bemühungen von Michael Fleischhacker, Chefredakteur der „Presse“ ablesen, die 68-er Bewegung anzupatzen. Er lässt keine mögliche und unmögliche Gelegenheit verstreichen, ohne einen Ausfall gegen Windmühlen zu riskieren. Das Hinhauen um jeden Preis, selbst wenn bloß Rauschen produziert wird, lässt hoffen, dass Fleischhacker bald auf den für Ex-„Presse“-Chefredakteure geschaffenen Posten eines Schriftleiters der „Wiener Zeitung“ nachrückt.

Die im Liegen-Umfaller-Qualität der österreichischen Sozialdemokratie

Zurück zum Thema: Die Behandlung der heurigen Jubiläen durch die meisten Medien fällt durch selektive und isolierte Behandlung auf. In geradezu asketischer Selbstbeschränkung wird dabei auf unterhaltsame Querverweise verzichtet. Beispielsweise lässt die Umfaller-Qualität der heimischen Sozialdemokratie sich auf ihre revolutionäre Enthaltsamkeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie und der Ausrufung der Republik im Jahr 1918 zurückführen.
Damals wurde die Macht, die auf der Straße lag, von der Parteispitze nicht aufgehoben, sondern den Bürgerlichen mit Ignaz Seipel, Engelbert Dollfuß und schließlich Kurt Schuschnigg als Galionsfigur in den Schoß gelegt. Seither ist die Geschichte der Sozialdemokratie von einer Serie versäumter Gelegenheiten geprägt und vom Kunststück gekrönt, im Liegen umzufallen.
Der Hund, der hierzulande begraben ist, wurde möglicherweise bereits mit dem Ende des 30-jährigen Kriegs 1648 – einem leider nicht gefeierten Jubiläum – insofern beerdigt, als damit der Sieg der Gegenreformation im Herrschaftsgebiet der Habsburger im Allgemeinen und in den österreichischen Ländern im Besonderen besiegelt wurde.
Dieser Triumph bestätigte die Austreibung von hunderttausenden Menschen, die am reformierten Glauben festhielten, und schloss die Eliminierung nahezu der gesamten Intelligenz ein. Das Medium Buch wurde in einem Ausmaß zum Fremdkörper, dass mehr als 300 Jahre später ein ÖVP-Abgeordneter in den 1960-er Jahren ungestraft sagen konnte, ihm werde schlecht, wenn er einen Buchdeckel sehe.
Und Erwin Pröll, der in Niederösterreich gefeiert wird, weil er gegen ein ausgesprochenes Muatterl ein Prozent Stimmen gewann, hat sich vor geraumer Zeit gerühmt, nach der Lektüre von Karl Mays „Schatz am Silbersee“ den Trend zum Zweitbuch verweigert zu haben.
Gegenreformation hieß neben der Vertreibung ganzer Volksteile das Aus für die Volksbildung durch das Verbot der lutherischen Bibel, die Liquidierung des Buchhandels durch strenge Zensur und die Ausmerzung nahezu jeglichen literarischen Lebens. Kein Wunder, dass  in dieser geistfeindlichen Atmosphäre nur „Sänger und Tänzer“ gedeihen konnten und die Formierung des Bürgertums im Schoße von Absolutismus und Spitzelstaat äußerst schleppend voran ging.
Die dadurch bedingte Spätentwicklung der Monarchie führte zur Katastrophe von 1848, dem Jahr mehr oder weniger gescheiterter bürgerlicher Revolutionen in ganz Europa. In Österreich war für die Niederlage die Furcht des Bürgertums vor dem Proletariat ausschlaggebend, das sich anschickte in die Kämpfe entscheidend einzugreifen.

Blutiges Regime der Österreicher in der k&k Monarchie

Revolution herrschte 1848 nicht nur in Wien sondern in sämtlichen Zentren des Habsburger Reichs wie Mailand und Venedig oder Prag und Budapest. Die Herstellung von Ruhe und Ordnung nahmen – ohne Rücksicht auf Verluste – Generalfeldmarschall Radetzky, zu dessen Marsch beim Neujahrskonzert im Musikverein gepascht wird, in Norditalien und Fürst Schwarzenberg in Budapest, Prag und Wien in die Hand. Damit wurde der Untergang des Vielvölkerstaates nach dem Ende des 1. Weltkriegs bereits zu dem Zeitpunkt vorprogrammiert, als Kaiser Franz Josef gerade sein Amt antrat. In nahezu jeder oberitalienischen Stadt findet sich bis heute ein Denkmal, das an das blutige Regime der „Österreicher“ im Jahr 1848 erinnert.
Das heimische Bürgertum bekam für die Bereitschaft, den Schwanz einzuziehen, nachträglich die Handelskammern geschenkt. Bis heute sorgt diese Institution unter der aktuellen Bezeichnung Wirtschaftskammer nicht nur für die gesetzliche Interessenvertretung der Unternehmer, sondern über die Sozialpartnerschaft auch für profitable marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen. Die Arbeiterschaft musste bis Anfang der 20-er Jahre des 20. Jahrhunderts auf eine Parallelorganisation warten.
Die heutigen Arbeiterkammern sollten damals die Auflösung der revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte kompensieren. Diese Bewegung bildete sich nach dem Jännerstreik und dem Aufstand der Matrosen von Cataro (Kriegshafen der Monarchie) spontan und analog zu den Sowjets heraus, als die Monarchie sich aufzulösen begann und das von Kaiserhaus und Offizierskaste zu verantwortende Massenmorden an den Fronten eingestellt wurde. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich auch in Deutschland und Ungarn, wo das Proletariat in isolierten und daher kurzlebigen Räterepubliken (München und Ungarn) die Macht übernahm.
In Österreich wurde die Rätebewegung von der sozialdemokratischen Führung bekämpft. Statt der Revolution und der Überwindung des Kapitalismus strebte sie eine Politik des Burgfriedens mit der herrschenden Klasse an.
Aus der angestrebten Koexistenz von rotem Wien und schwarzer Provinz kristallisierte sich – parallel zur Umpolitisierung des Bundesheeres von einem sozialdemokratisch geführten Volks- zu einem reaktionär befehligten Berufsheer – der Heimwehrfaschismus heraus. Seine Folge war die Auflösung von Parlament und Demokratie, Verbot der Parteien und Organisationen der Arbeiterbewegung, Präsentation Österreichs als besserer deutscher Staat und Preisgabe des Landes im März 1938 an die Nationalsozialisten.

1968 – Experimente zur Überwindung der antiautoritären Gesellschaft

Nach der Machtübernahme durch die Nazis zeigten die politischen Lager, anlässlich der Volksabstimmung über den „Anschluss“ im April 1938, ihr vaterländisches Gesicht. Freudige Zustimmung erntete Hitler etwa von Karl Renner, seltsamerweise Staatskanzler der Ersten und der Zweiten Republik, oder der heimischen Bischofskonferenz der katholischen Kirche.
Als einzige Partei verurteilte die KPÖ noch in der Nacht des Einmarsches die Auslöschung Österreichs; gleichzeitig bekannte sie sich zum Wiedererstehen das Landes als eigenständiger Staat. Den Worten ließen die Kommunistinnen und Kommunisten Taten folgen, wie ihre führende Rolle im österreichischen Widerstand und die hohe Zahl von Todesopfern aus ihren Reihen beweist.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus leiteten die Besatzungsmächte eine formaldemokratische Entwicklung Österreichs ein. Von der Konzentrationsregierung unter Einschluss der KPÖ nach den überstürzten Nationalratswahlen bereits im November 1945, gab es 1948 mit der Währungsreform als Auslöser relativ rasch einen Übergang zur großen Koalition zwischen ÖVP und SPÖ. Ausschlaggebend war ferner die Haltung der Parteien zum gerade startenden Marshall-Plan (ÖVP und SPÖ dafür; KPÖ dagegen).
Spätestens nach dem Scheitern des Oktoberstreiks 1950 entwickelte die Sozialpartnerschaft sich zur wirtschafts- und sozialpolitischen Schaltstelle des Landes. Sie beruhte auf der institutionellen Zusammenarbeit der Interessensvertretungen von Unternehmer (Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung) und Werktätigen (ÖGB und Arbeiterkammer). Heraus kam dabei der lähmende Parteien- Partieproporz in Form von politischen Doppelbesetzungen, die von den großen Banken über die Verstaatlichten Betriebe bis zu den Straßenmeistereien reichte.
Je länger desto gravierender wurde das lähmende Klima im Land; es herrschte eine bleierne Zeit, die eine Veränderung der Welt herausforderte. Und dann kam 1968! – In Österreich handelte es sich um kein politisch explosives Ereignis, sondern eine von kulturellen und politischen Phänomenen vorbereitete Bewegung von Menschen, die verschiedene Möglichkeiten, anders zu leben, praktisch erproben wollten.
Die entsprechenden Initiativen waren antiautoritär angelegt und richteten sich gegen das Establishment. Sie betrafen das Sexualleben, die Kindererziehung, die Überwindung der Kleinfamilie, die Humanisierung der Arbeitswelt. Weitere Themen waren der Konsum- und Medienterror. 1968 war hierzulande kein Akt der Alleinunterhaltung durch Personen wie Robert Schindel oder Aktionen wie die „Uniferkelei“, wie die Leitmedien zu suggerieren trachten, sondern ein breites Experimentierfeld zur Überwindung der antiautoritären Gesellschaft.

Militäreinsatz_1848

1848 kam es in Wien-Mariahilf zu folgenschweren Zusammenstößen zwischen den Garden, Arbeitern und Studenten auf der einen und den kaiserlichen Truppen auf der anderen Seite.

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