Es geht voran – Langsam

Portugiesische Verhältnissuhu-105e; Hoffnung in Lousitanien ■ Die sozialdemokratische Minderheitsregierung in Portugal müht sich mit kleinen Erfolgen vorwärts. Mit Duldung der Linksparteien, und auch die „AufpasserInnen” aus Brüssel halten sich noch zurück.  
Von Martin Wachter aus Lisboa. Erschienen in der UHUDLA-Ausgabe 105/2016
Seit einem Jahr ist die sozialdemokratische Regierung von Antonio Costa im Lissabonner Parlament am Ruder. Mit Unterstützung der KommunistInnen und Grünen namens CDU und dem Linksblock (BE) wurden soziale Verbesserungen eingeleitet.


Der grausame und folgenschwere Sparkurs der konservativ-rechten Vorgängerregierung ist einstweilen Geschichte. Doch das Volk und die Gewerkschaften wollen mehr.

In Lousitanien gibt es zwei Millionen Arbeitssklaven, faktisch ohne Rechte, und es werden immer mehr

Die Sozialisten hatten Mitte November 2015 eine regierungsfähige Mehrheit in Sao Bento, dem portugiesischen Parlament gezimmert. Bereits im Jänner sah sich Regierungs-Chef Antonio Costa mit Protesten, vor allem der Beschäftigten im öffentlichen Dienst, konfrontiert. Sie forderten massiv eines der sozialdemokratischen Wahlversprechen und die Wiedereinführung der 35-Stunden-Woche ein.
Eine Reihe von Streiks und Aktionen in vielen Betrieben folgten in den ersten Monaten des Jahres 2016. Ende Mai organisierte die kommunistisch dominierte Gewerkschaft CGTP IN eine Woche des Kampfes für mehr soziale Gerechtigkeit und Rücknahme der volkswirtschaftlich zerstörerischen Privatisierungen der konservativen Vorgängerregierung von Pedro Passos Coelho und Paulo Portas. Der öffentliche Verkehr stand teilweise still. Raffinerien, Hafenanlagen und Tankstellen wurden bestreikt. Auch im Mai gab es große Proteste der Pensionistenverbände. Zum wiederholten Male protestierten die MitarbeiterInnen der Bildungseinrichtungen. Am 18. Juni waren 80.000 Eltern, SchülerInnen und LehrerInnen in Lisboa auf der Straße. Diese Berufsgruppe war und ist massiv vom Sparkurs und einem sozialem Kahlschlag betroffen.
Ein Beispiel von vielen: Die Flughafenbetreibergesellschaften in Lisboa, Porto und Faro wurden mehrheitlich teilprivatisiert. Der bundesdeutsche Frankfurter Großkonzern FRAport schluckte die staatliche Betreibergesellschaft ANA. Es lief alles nach bekanntem Muster. Die ANA wurde in mehrere Teilfirmen zerschlagen und „umstrukturiert”.

Durch Änderungskündigungen machte FRAport über Nacht gut Verdienende zu MindestlohnempfängerInnen

Von den über 7.000 Beschäftigten erhielten fast 1.000 den blauen Brief. Bis Oktober des Jahres 2016 sollen weitere 650 Entlassungen folgen. Der Großteil der Beschäftigten landete in Form von Änderungskündigungen in der neuen Gesellschaft Portway. 256 alte neu-angestellte, einst besserverdienende Flughafenwerktätige fanden sich über Nacht als 530 Euro brutto im Monat verdienende MindestlohnempfängerInnen wieder. Dieser Sachverhalt führte zu weiteren Aktionen und Arbeitsniederlegungen.
Die geringverdienenden und prekär Beschäftigten werden immer mehr im Lande. Es gibt bereits über zwei Millionen davon. Das ist jede dritte Arbeitsstelle, und es werden immer mehr billige Arbeitskräfte ohne Rechte eingestellt. Werksschließungen sind nach wie vor an der Tagesordnung. Doch die Beschäftigten streiken und demonstrieren landauf landab. Sie kämpfen mit Ausdauer und Enthusiasmus gegen die Arbeitsplatzvernichtung. Der Unterwäschekonzern Triumph will schon seit geraumer Zeit zusperren, doch die 530 Werktätigen wehren sich mit Erfolg.
Seit 1. Juli 2016 gibt es ein paar Verbesserungen im Steuerbereich. Die Mehrwertsteuer auf Speisen und Getränke in Lokalen und Restaurants wurde von 23 auf 12 Prozent reduziert, allerdings nicht auf alkoholische Getränke. Die wichtigste positive Verbesserung gibt es für alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Ab Juli 2016 gilt wieder die 35-Stunden-Woche. Präsident Marcelo Rebelo de Sousa hat das Arbeitszeitverkürzungsgesetz unterzeichnet.
Die am 4. Oktober 2015 abgewählte konservative Regierung hatte 2012 die wöchentliche Arbeitszeit der Staatsbediensteten auf 40 Stunden erhöht. Die Rückkehr zu den 35 Stunden war im Parlament Anfang des Jahres gebilligt worden. Portugals konservatives Staatsoberhaupt Rebelo de Sousa drohte, dass er das Gesetz vom Verfassungsgericht prüfen lassen würde, wenn es zu einer Ausgabensteigerung der Staatsfinanzen kommen  sollte.
Aufregung bei den Sparkursfanatikern herrscht auch wegen der Erhöhung des Mindestlohns von sage und schreibe 505 Euro auf 530 Euro brutto im Monat. Es bleiben arbeitenden Lohnabhängigen netto eh nur matte 450 Euro zum Leben. Das reicht hinten und vorne nicht für ein menschenwürdiges Leben. Trotz Hochsaison in den Sommermonaten klagen die Tourismusbetriebe an der Algarve über Arbeitskräftemangel. Die Menschen verlassen auf Grund der Tristesse und Ausbeutung das Land. In den letzten zehn Jahren ging die Bevölkerungszahl von 11,5 Millionen auf 10,2 Millionen Einwohner zurück.
Fast eine Million PortugiesInnen gingen in diesem Zeitraum ins Ausland, weil sich selbst das Arbeiten in Lousitanien  nicht mehr lohnt. Der Einkommensabsturz aller unselbstständig Werktätigen ist in der oben abgebildeten Grafik ersichtlich. 1995 war der Anteil der Lohn- und Gehaltssumme am Brutto-Inlands-Produkt (BIP) 37,7 Prozent. 20 Jahre später im Jahr 2015 war dieser Posten am BIP um 4 Prozent auf 33,7 Prozent geschrumpft.
Der Sparkurs und die aufgezwungenen „Reformen” durch die Troika haben Portugal an den Rand des Ruins getrieben. Ein Ende mit Schrecken ist für viele PortugiesInnen zur Realität geworden. Bereits eine Woche bevor Portugal Fußball-Europameister 2016 geworden ist, kursierten wieder EU-Drohungen wegen Defizitverfehlungen in den Medien. Zur Troika aus Europäischer Zentralbank, der EU-Kommission und Internationalem Währungsfonds gesellen sich jetzt die Mächtigen im ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) und fordern eine Bestrafung von Portugal und Spanien. Als Einpeitscher fungiert wieder einmal Wolfgang Schäuble, Angela Merkels und Deutschlands „Sparefroh”.

Schluss mit der Unterwerfung durch die EU und den Euro, fordern mehrere Parteien von der Regierung

Die Quadriga aus Brüssels und Deutschlands Gnaden sollten nicht übermütig werden mit ihren verordneten Strafexpeditionen gegen „Def izitsünder”. Die Volkes-Stimmung auf der iberischen Halbinsel könnte kippen. Das Anti EU Referendum in Großbritannien ist mehr als eine Warnung an das Europa der Konzerne und Banken. Die Mechanismen wie EU-Brüssel Regierungen unter Druck setzt, sind aus dem bisherigen Verlauf der Euro-Krise bekannt.
Weniger bekannt ist, dass die gegenwärtige portugiesische Regierung auf Grundlage eines Tolerierungsabkommens funktioniert. Der Bloco de Esquerda (BE Linksblock) und die KommunistInnen (PCP) stellen keine Minister. Die sozialdemokratische Minderheitsregierung von Antonio Costa muss für jede Gesetzesvorlage immer wieder Mehrheiten im Parlament organisieren. Zwischen den Linksparteien und Costas Sozialdemokraten gibt es tiefgreifende Meinungsunterschiede, die im Tolerierungsabkommen ausgeklammert wurden.
Bloco und PCP plädieren für einen Schuldenschnitt für Portugal. Wenn dieser nicht zustande kommt, sind der BE und die Kommunistische Partei für einen Austritt aus der Euro-Zone. Sie und ein paar kleinere Parteien  haben seit längerer Zeit diesbezügliche Kampagnen und politische Aktionen laufen. Diese Parteien können ihren eingeschlagenen politischen Weg mit einem GesamtwählerInnen-Anteil von über 20 Prozent untermauern.
Rettungsschirm hin, Eurokrise her – in Portugal geht es um Alles oder Nichts. Die Frustrationsgrenze von vielen Portugiesinnen und Portugiesen ist schon längst überschritten. Die Fakten liefern die StatistikerInnen. Jeder dritte Portugiese und jede dritte Portugiesin haben aus finanziellen Gründen in den letzten vier Jahren ihren Urlaub zu Hause verbracht.
Das zweite Beispiel behandelt das von der Troika gewährte Hilfspaket aus dem Jahr 2011. Seit Jahren geistert die 78-Milliaden-Euro-Hilfe durch die mediale Berichterstattung. Die Fakten nach fünf Jahren sehen so aus: Dieses geliehene Geld kommt die PortugallierInnen teuer zu stehen. Bis Mitte 2016 hat Portugal 7,4 Milliarden Euro Zinsen an die Banken und Gläubiger bezahlt. Seit 2012 wurden für die Schuldentilgung 6,5 Milliarden Euro berappt. Demzufolge beträgt die gegenwärtige Finanzmisere immer noch über 70 Milliarden Euro. Bei diesem Tempo der Entschuldung brauchen die portugiesischen SteuerzahlerInnen mindestens noch 60 Jahre bis zur schwarzen Null.
In dieser langen Zeit kann in Portugal sehr viel geschehen – Auch Revolutionen, und wenn es sein muss wieder mit roten Nelken, wie am 25. April 1974.

Kommentar verfassen