Der Kampf geht weiter

Carlos

Portugiesische Verhältnisse ■ Viel Lob für Portugal. Die EU-Politgranden sind entzückt über den „Fortschritt” der LousitanierInnen. Im Land selbst regt sich wieder massiver Widerstand gegen die politischen Verhältnisse. Zehntausende demonstrieren am „Tag des nationalen Kampfes” in Porto und in der Hauptstadt.
In Lisboa dabei Martin Wachter

Alle auf die Straße
„A luta continua! – Todos já na rua!”, ist wieder in auf der iberischen Halbinsel. Der Kampf geht nach einer einjährigen schöpferischen Pause weiter. Eine Woche nach massiven Protesten von linken und gewerkschaftlichen Organisationen in Spanien, hat auch der größte Gewerkschaftsverband in Portugal Anfang Juni 2017 zum nationalen Kampftag aufgerufen.

Zehntausende Werktätige, prekär Beschäftigte, Arbeitslose und sehr viele Jugendliche sind dem Aufruf der CGTP IN in Lisboa und Porto gefolgt.

Die Zeit des harten Sparens ist vorbei. Jetzt bestimmen schlechte Bezahlung und unsichere Jobs den Alltag

Kurzum, der Kampf geht weiter! Der Protest gegen schlechte Bezahlung, Arbeitslosigkeit und zigtausende Jobs ohne vernünftige, rechtliche Grundlagen ist wieder dort angekommen, wo er vor eineinhalb Jahren beendet wurde – auf der Strasse. Nach einer längeren Pause ist es an der Zeit die Demonstrationsrituale neu zu beleben. Demonstrieren ist für sehr viele TeilnehmerInnen Ganztagesarbeit: der Ort der Handlung in Lisboa ist 300 Kilometer entfernt. Aufstehen um 6 Uhr, nach 7 Uhr kommt der Autobus, 30 Kilometer weiter sind so gut wie alle Sitze besetzt. Diesesmal am Samstag den 3. Juni sind viele LehrerInnen dabei. Ein Lehrer erzählt über Lautsprecher: In Grundschulen der 60.000 Einwohnerstadt Portimao sind fast die Hälfte der Lehrkräfte prekär beschäftigt. Sie bekommen nur für zehn oder elf Monate Gehalt im Jahr. Mitte Juni beginnen die Ferien und enden Mitte September. Viele der Prekären erfahren einige Tage vor Schulbeginn, ob sie gebraucht werden. Manche bekommen im Oktober eine „Einladung“ zur Arbeit. So ist „Schulautonomie” auf portugiesisch.
Die DirektorInnen bekommen im Jahr pro SchülerIn eine von der Regierung zugesicherte Summe. Diese wurde in einer harten parlamentarischen Auseindersetzung beschlossen. Denn zu Zeiten der „Troika-Sparkurs-Regierung“ hat die Volkspartei PSD, die sich in Portugal Sozialdemokratische Partei nennt, die AbsolventInnen der Privatschulen um ein gutes Drittel mehr mit öffentlichen Geldern unterstützt. Die Schulen im Land erhalten für den Schulbetrieb die Kopfprämien und die Schulleitung muss dann schauen wie sie den Betrieb über’s Jahr geregelt bekommt. Sparen geht oft nur über die Personalkosten. Darum sind die Lehrkräfte quasi die „sparpolitische” Manövriermasse.
Nach einer Stunde Busfahrt eine Pause: der erste „Super Bock“ (Biersorte) wird erlegt im Alentejo. Sieben Autobusse aus der Algarve sind zur Demo unterwegs. Noch 200 Kilometer bis zur Demo. Beim grossen Generalstreik am Höhepunkt des Portugiesichen Niederganges, im Februar 2012 als in Lisboa 300.000 Menschen gegen die Sparpolitik demonstrierten, waren an dieser Stelle 29 Busse.
Zwei Stunden Mittagspause in der „Shopping City Süd“, hier „Forum Montejo“ genannt. Schönstes Demowetter, vom Meer und vom Tejo weht ein kühler Wind, bei schleierbewölktem Himmel. Noch 20 Kilometer bis zum Ziel.
15 Uhr Ziel Praca Marques de Pombal mitten in Lisboa erreicht. Die zwei Kilometer lange Avenida de Liberdade von oben bis unten mit DemonstrantInnen dem Wetter entsprechend luftig bevölkert. Das sind so um die 50.000 KundgebungsteilnehmerInnen.
Zeitgleich auch im nordportugiesischem Porto eine Demo zum selbigen Thema. „Nationaler Tag des Kampfes“.

Es geht voran in Portugal! Aber das arbeitende und arbeitslose Volk hat wenig bis gar nichts vom Erfolg

Am Schlusspunkt der Manifestation steht die Kampfesrede des CGTP IN Chefs Arménio Carlos, eine Stunde lang und ergiebig. Sehr viel steht auf der Wunschliste der kämpfenden GewerkschafterInnen: Die 35-Stunden-Woche für alle öffentlich und kommunal Bediensteten wurde bereits erreicht.
Die aktuelle Forderung lautet daher 35-Stundenwoche für alle Arbeitenden.
Das größte Problem ist die quasi totale Abschaffung des Arbeitsrechts. Mehr als ein Drittel der Werktätigen ist in prekären ungeregelten Arbeitsverhältnissen beschäftigt. Die Zahl der geringfügig-, leih- und zeitlich begrenzten Arbeitsverhältnisse steigt rasant. Die gewerbliche Schwarzarbeit feiert wie einst fröhliche Urständ. Auf den Baustellen Portugals ist jeder fünfte Arbeitsplatz mit illegal Beschäftigten abgedeckt.
Ein anderes Problem stellt der gesetzliche Mindestlohn dar. Er beträgt gegenwärtig nur 557,- Euro brutto im Monat. Die Gewerkschaft CGTP fordert eine sofortige Erhöhung auf mindestens 600,- Euro. Sie bekämpft die von der Regierung in gleicher Höhe beschlossene stufenweise Erhöhung bis zum Jänner 2020. Der Vollständigkeithalber sei hier angeführt, dass jeder fünfte Arbeitsplatz ein mit Mindestlohn bezahlter ist. Viele zigtausende Werktätige bekommen noch weniger.
Ein Beispiel für viele. An der Algarve sind durch den Boom der Tourismusindustrie 2016 zusätzliche 40.000 Arbeitsplätze entstanden. Viele junge Menschen erhalten jetzt 600,- Euro im Monat. Da ist aber der gesetzlich verankerte 13. und 14. Monatsgehalt inklusive. Ein klarer Gesetzesverstoß, weil auf den zwei Zusatzgehältern keine Sozialabgaben enthalten sind. Auf diese Art und Weise wird der Mindestlohn mehr oder weniger auf nur 500,- Euro monatlich gedrückt. Wer sich aufregt, fliegt. Kündigungsschutz war gestern!
Um 19 Uhr „ja esta“, „aus fertig“. Mit der portugiesischen Hymne endet der nationale Kampftag nachdem die Internationale gesungen wurde. Auf der Rückfahrt folgt ein zweistündiges Abendessen in der alentejanischen Kleinstadt Grandola (vila morena). Nach Mitternacht geht der Demotag zu Ende.
Ein paar Fakten über die gegenwärtige politische und ökonomische Situation in Lousitanien. Die sozialdemokratische Minderheitsregierung der Sozialistischen Partei von Antonio Costa feiert das gegenwärtige 2,1 prozentige Wirtschaftswachstum als einen Erfolg ihrer Regierungspolitik.
Die Ursachen für dem Aufschwung bedürfen einer genaueren Analyse. Nach wie vor schrumpft die industrielle- und gewerbliche Produktion. Kapitalinvestitionen in wirtschaftliche Bereiche sind rückläufig. Genauso verhält es sich mit der Diskrepanz zwischen Import und Export. Portugal muss mehr Waren und Produkte aus dem Ausland einführen als es exportiert. Wenn der Tourismus im Land an der Atlantikküste statistisch nicht als „Export” gerechnet weren würde, dann ginge die Schere zwischen Soll und Haben in der Handelsbilanz zu Ungunsten Portugals noch weiter auseinander. Der private Konsum geht immer noch zurück oder stagniert bestenfalls. Soll heissen, der Sparkurs diktiert immer noch das Leben der meisten Portugies­Innen.

Reiche ausländische AnlegerInnen und PensionistInnen werden mit Privilegien in das Land gelockt

Der zarte Aufschwung beruht auf drei Faktoren. Da wäre einmal der Tourismus und die damit verbundene positive Entwicklung im Dienstleistungssektor. Kapitalflucht aus dem Norden Europas, besonders aus Frankreich ist eine weitere Stütze der positiven Entwicklung. Portugal macht jetzt wieder dort weiter, wo ein Teil der Ursache des Scheiterns um 2010 war: Immobilienspekulation. Baukräne sind wieder als Symbol des „Fortschritts” allerorts sichtbar.
Der Fremdenverkehr ist ein Pfeiler des bescheidenen Aufschwungs. Da hat Portugal einfach Glück. In Nordafrika inklusive Ägypten ist der Tourismus wegen Krieg und politischer Instabilität stark zurückgegangen. Die Türkei zählt auch nicht mehr zu bevorzugten Tourizone bei den Europäern. 2015 wuchs die Tourismusbranche in Portugal um fast 10 Prozent, im Jahr 2016 waren es sogar 12,9 Prozent. Besonders die Franzosen besuchen massenhaft die Atlantikstrände und Städte. Sie kaufen, die durch die Krise frei gewordenen Immobilien im großen Stil. Viele der neuen EigentümerInnen machen Portugal zu ihrem Lebensmittelpunkt. Portugals Regierung holt mit ihrer „Golden Visum”-Aktion reiche Anleger und Pensionisten ins Land. Den Kapitalflüchtlingen werden ab 500.000 Euro großzügige Steuern und Privilegien gewährt. Ab einer Million Euro steigern sich die Vorteile noch um zusätzliche Begünstigungen. Das Land der Auswanderer ist durch diese Maßnahmen zu einem Einwanderungsland geworden.
Die Liste des Kampfes für soziale Gerechtigkeit ist, wie geschildert, sehr lang. Es gibt trotz bescheidener Erfolge viel zu tun für die Weltverbesserer und Weltverbesserinnen am südwestlichem Rande von Europa.

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