Ein Nest unter dem Sofa

Rabe Xaver
Tauben- und Rabenkonflikt in Ottakring
■ Oder das Vogeldrama am Balkon. Weil sich Balkonbesitzerin Sieglinde Popp (57) zur Taubenabwehr eine Rabenattrappe zugelegt hat, fühlt sich Täuberich Bernd (4) in seiner Intelligenz verletzt.
Er sinnt auf Rache. Am Ende könnte es einen lachenden Dritten geben. Denn Rabe Xaver (7) hat im Balkondrama seine Federn im Spiel.
Von Siegbert F. Müller erschienen in der UHUDLA Ausgabe 109 / 20018

Wien.(apa) Als Bernd im Mai dieses Jahres mit seiner Taubenflamme Laura (3) eine Familie gründete, war der Standort für das neue Eigenheim schnell ausgemacht. Ja, dieser drängte sich förmlich auf. Am hofseitigen Balkon im zweiten Stock des Eckhauses in der Koppstraße 212 in Wien Ottakring war die Wohnungsbesitzerin Sieglinde Popp gerade dabei, ihren Balkon neu einzurichten.


Dabei stellte die Frau auch ihr neu erstandenes Sofa in Balkonien auf. Das Möbelstück verfügte über vier zehn-Zentimeter lange Holzfüße. Bernd: „Klar, dass wir uns den Zwischenraum unter dem Sofa für den Nestbau ausgesucht haben. Was Besseres wirst du im ganzen Hof nicht finden. Da kommt kein Wind und kein Regen hin.“
Dass die alleinlebende Popp nach der frühjahrsbedingten Umgestaltung ihres geliebten Balkons einen dreiwöchigen Marokkourlaub verbrachte, kam der werdenden Taubenfamilie durchaus zupass. Ungestört ging man daran, aus dem gesamten Hof Äste und Laubwerk zusammenzutragen. Im Nu war das Nest im hintersten Winkel des Sofaunterraums errichtet.
Als Popp aus ihrem Fernurlaub zurückkam, war die Taubenmutter Laura schon dabei, die Eier auszubrüten. Der Nachwuchs war auf dem Weg. Dass sich auf ihrem Balkon während ihrer urlaubsbedingten Abwesenheit eine fremde Familie im wahrsten Sinn des Wortes eingenistet hatte, bekam Sieglinde Popp nicht einmal ansatzweise mit.

Den Plastikraben platzierte die Popp in eines ihrer auf dem Balkongeländer hängenden Blumenkistl

Zuerst fiel ihr nur die viele Taubenscheiße auf, die morgens und auch abends, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, den schönen Steinboden ihres Balkons verunzierte. Das wahre Ausmaß dieser Invasion, die sich da still und heimlich vor ihren Augen entfaltete, blieb der selbständigen Physiotherapeutin aber vollends verborgen.
Nachdem sie zweimal täglich eine Woche lang angewidert ihren Balkon geputzt hatte, schritt sie zur Tat und besorgte sich eine Rabenattrappe. Den Plastikraben platzierte sie in eines ihrer auf dem Balkongeländer hängenden Blumenkistl. Als Bernd die Rabenattrappe tags darauf in der Früh sah, war er nur einen kurzen Moment lang irritiert.
Innerhalb weniger Augenblicke hatte er die Charade durchschaut. Und sofort kochte Wut in ihm auf. Denn Bernd, der noch vier Kinder aus zwei früheren Beziehungen hat, fehlt es nicht an Lebenserfahrung. Bei diversen Nestbauten in der Vergangenheit sind ihm immer wieder Rabenattrappen untergekommen. Und jedes Mal, wenn er eine solche sah, ärgerte er sich ein bisschen mehr. Er werde doch wohl noch einen Plastikvogel von einem echten Raben unterscheiden können, echauffiert sich Bernd:
„Da kommt mir echt die Galle hoch. Für wie blöd hält uns die Popp eigentlich? Ich weiß doch, dass die Raben zwar nicht zu den Spritzigsten und Flatterhaftesten gehören, aber länger als fünf Sekunden halten auch die es nicht still sitzend aus. Es gibt genug von denen im Hof. Und die hab ich auch immer im Auge.“

Menschen stellen Tauben auf eine Stufe mit Ratten, vergessen aber, dass Ratten intelligente Tiere sind

Die Rache Bernds folgte auf dem Fuß. Denn Tauben sind nicht nur klüger sondern auch hinterlistiger als man denkt. Um die Balkonbesitzerin Popp im Glauben zu lassen, die Rabenattrappe habe ihre abschreckende Wirkung nicht verfehlt, beschloss Bernd, von nun an nur mehr sporadisch auf den Balkonboden zu kacken.
Für den renomierten Verhaltensforscher und Taubenpsychologen Gunnar Langpaul kommt die emotionale Reaktion Bernds nicht überraschend: „Menschen stellen Tauben gerne auf eine Stufe mit Ratten. Dabei vergessen sie, dass auch Ratten intelligente und anpassungsfähige Tiere sind. Dass Tiere nicht zu Emotionen fähig sind, ist ein verbreiteter Irrtum.“ Die emotionale Bandbreite sei dabei so hoch wie bei Menschen. Auch dass Tiere ein bewusst täuschendes Verhalten an den Tag legen, komme im Tierreich immer wieder vor, so Langpaul.
In jeder Spezies sei den Eltern der Schutztrieb angeboren. Um ihre Jüngsten zu schützen, bedienten sie sich durchaus kreativer Methoden. Bei Taube Bernd dürfte es sich aber dennoch um ein ausgesprochen hitzköpfiges und durchtriebenes Exemplar seiner Spezies handeln. Aber durchtriebene Hitzköpfe gebe es ja auch beim Homo Sapiens bekanntlich genug, so Experte Langpaul.
Nachdem Bernd seine Notdurft also nur mehr ab und zu auf dem Balkonboden Popps verrichtete, und Laura nur noch ein paar Tage hatte, um ihre Eier unter dem Sofa fertig auszubrüten, schien dem gefiederten Familienglück vorerst einmal nichts mehr im Wege zu stehen. Doch wie Recherchen ergaben, hatte Bernd die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Und der Wirt war im konkreten Fall ein im Hof wohnhafter Rabe namens Xaver.
Denn Tauben mögen intelligentere Vögel sein als man landläufig glaubt. Was Bernd aber nicht zu wissen scheint: Die Raben sind noch intelligenter und viel schlauer. Ja, es sind erwiesenermaßen die intelligentesten Vögel überhaupt auf unserem Planeten. Über Wochen hat Xaver von seinem Nest im großen Ahornbaum in der Mitte des Hofs beobachtet, was sich am Balkon Sieglinde Popps abgespielt hat. Hat dem, in seinen Augen, traurigen Schauspiel beigewohnt, das Bernd und Popp da über einen langen Zeitraum inszeniert haben.
Wie Xaver freimütig erzählt, sei er eines Tages aktiv und damit zum Beteiligten dieses Balkondramas geworden. Vor Tagen hätte er nämlich in einer sprichwörtlichen Nacht-und-Nebel-Aktion die Rabenattrappe geschnappt und vom Blumenkistl flugs in die nächstgelegene Mülltonne manövriert.

Wenn es soweit ist und die Taubenmutter auf Futtersuche geht, will Xaver als erster zur Stelle sein

Seitdem wechsle er sich mit seiner Frau Ruth dabei ab, die Attrappe in zwei-Stunden-Schichten als lebendes Scheinimitat zu ersetzen. Dass hier ein paar köstliche Taubeneier heranreifen würden, bei denen es sich bekanntlich um die Leibspeise von Raben schlechthin handelt, hätte unter der Rabencommunity im Hof längst die Runde gemacht.
Wenn es aber soweit ist und die Taubenmutter das erste Mal selbst auf Futtersuche geht und ihr Nest alleine lässt, will Xaver als erster zur Stelle sein. Sein Gefühl sagt ihm, dass es nur noch Tage, wenn nicht Stunden sind, bis es soweit ist. Und da Raben nun mal intelligente Tiere sind, müsse man den anderen immer einen Schritt voraus sein, so Xaver.

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