Wohin steuert die Türkei

Zirngast

Langjährige Cooperations-Partnerschaft  ■ Der neue KOMpass, die Zeitung der KOMintern – Kommunistische Gewerkschaftsinitiative International, ist bereits 20 Mal als Beilage in der urig rebellischsten Strassenzeitung Österreichs erschienen. Wir bringen ein Interview mit dem Jouranlisten Max Zirngast aus der Beilage des UHUDLA 112, welcher ab Februar auf den Strassen gekauft werden kann.
Interessierte können den KOMpass bei info@komintern.at bestellen oder auf UHUDLA Digital nachlesen oder herunterladen.

Max Zirngast ist ein Journalist, Politikwissenschaftler und Aktivist, der in der Türkei studierte, im September 2018 in seiner Wohnung in Ankara festgenommen wurde und danach für drei Monate im Gefängnis saß.

Ein Jahr nach seiner Festnahme wurde er schließlich von allen Anklagepunkten freigesprochen und konnte nach Österreich zurückkehren. Daneben wurde er einer breiten Öffentlichkeit als Autor des Buches „Die Türkei am Scheideweg“, edition assemblage 2019, bekannt.

KOMpass: Die Türkei ist in den europäischen Medien immer wieder Thema. Zum einen wird viel berichtet, zum anderen gewinnt man den Eindruck, dass ein eher oberflächliches Verständnis vorherrscht. Wie sieht die politische und gesellschaftliche Lage im Moment aus?
Max Zirngast: Die Türkei befindet sich seit 2013 in einer tiefen Hegemoniekrise. Auslösend dafür war die Internationalisierung der kurdischen Bewegung, ihr Erstarken in Nord-Ost Syrien bzw. Rojava und der Gezi-Aufstand im Juni 2013. Diese popularen Dynamiken haben das tradierte Politikverständnis und das etablierte Modell von Staat und Gesellschaft grundlegend in Frage gestellt und genau dadurch, dass sie als Beherrschte nicht mehr so wie bisher beherrscht werden wollten auch eine Krise innerhalb der herrschenden Klasse ausgelöst. Die darauffolgende und bis heute andauernde Periode einer permanenten Spirale von popularem Protest, Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse und Gewalteskalation hat Staat und Gesellschaft in der Türkei von Grund auf umstrukturiert. Aktuelle Entwicklungen in der Türkei sind immer vor dem Hintergrund der multiplen Krise und vor allem der tiefen Hegemoniekrise zu verstehen.

KOMpass:  Im Oktober 2019 ist die Türkei in Nord-Ost Syrien einmarschiert und hat die von kurdischen Kräften angeführten Strukturen der Selbstverwaltung angegriffen. In den letzten Wochen scheint die Türkei gewillt, aktiv und mit eigenen militärischen Strukturen am Konflikt in Libyen teilzunehmen. Woher rührt diese Aggressivität?
Max Zirngast: Seit den Lokalwahlen 2019, bei denen die Regimeallianz um Erdoğan eine schwere Niederlage einstecken musste, hat sich die Krise in der Türkei vertieft.

Die innerstaatliche bürgerliche Opposition hat an Kraft gewonnen

Das Regime versucht seine Krise im Inneren vor allem mit Aggressivität nach Außen, gegenüber der kurdischen Bewegung, aber jetzt auch mit der noch offeneren Einmischung in Libyen zu lösen, oder zumindest zu überdecken.

Kriegseinsätze im Äußeren geben dem Regime die Möglichkeit im Sinne der nationalen Einheit und der Staatsräsonsich hinter den momentanen Führer, also Erdoğan zu gruppieren. Das funktioniert mal besser mal schlechter, gegenüber der kurdischen Bewegung – egal ob in der Türkei oder in Syrien oder anderswo – sind die verschiedenen Staatsfraktionen historisch gesehen relativ vereint.

Aber dem Einsatz in Libyen wurde von der bürgerlichen Opposition keine Zustimmung erteilt. Es ist auch fraglich, ob die Unterstützung für die Regierung von Sarraj in Tripolis von Erfolg gekrönt sein wird, wenn die Kräfte um General Haftar von Staaten wie Ägypten, Saudi Arabien, Russland, aber auch Frankreich unterstützt
werden. Aber wir dürfen die Entscheidungen von Staat und Kapital nicht überrationalisieren. Ein kriselndes Regime in einer Hegemoniekrise versucht sich mit solchen Aktionen Luft zu schaffen und mag dabei gut und gerne seine eigenen Kräfte übersch.tzen.

KOMpass: Wie steht es um die gesellschaftliche Opposition in der Türkei selbst?
KOMpass: Die gesellschaftliche, demokratische und sozialistische Opposition, ist im Grunde schon immer starker Repression ausgesetztgewesen. Aber in den letzten Jahren, mit der Ausrufung des Ausnahmezustands nach dem Putsch 2016, hat die Repression noch zugenommen. Der organisierten Linken in der Türkei geht es im Moment gerade nicht sehr gut. Sie ist in einer tiefen Krise, die aber seit Kurzem mehr oder weniger auch offen thematisiert wird.

Die Linke versucht sich neu aufzustellen und einen Ausweg zu finden

Dabei könnte sie durchaus auf gesellschaftliche Bewegungen bauen. Die kurdische Bewegung, die natürlich organisiert und stark ist, mal beiseitegelassen, ist die Frauenbewegung unvermindet stark und lässt sich nicht unterkriegen. Die alevitische und arabisch-alevitische Bevölkerung wird von ihren Forderungen nach Rechten und der Anerkennung ihrer Identität nicht abweichen. Das Bedürfnis nach einer demokratischen Republik, mit starkem sozialen Inhalt und einer demokratischen Verfassung ist groß. Mit der ökonomischen Krise und der zunehmenden Verarmung der Bevölkerung werden auch soziale Forderungen stärker werden.In der ArbeiterInnenklasse rumort es auch ordentlich.

KOMpass: Du hast die ArbeiterInnenklasse angesprochen. Wie ist deren Lage?
Max Zirngast: Die Lage der abhängig Beschäftigten in der Türkei wird immer schwieriger. Was makroökonomische Indikatoren betrifft, hat sich die Türkei nach einem fürchterlichen Krisenjahr von Mitte 2018 an wieder leicht erholt, die starken Schwankungen zum Beispiel der türkischen Lira haben abgenommen. Wobei
es gerade die offiziellen Zahlen der Statistikbehörde mit großer Vorsicht zu genießen gilt, da deren Berechnungsmethoden äußert undurchsichtig sind. Aber im Alltagsleben wird es für die Menschen immer schwieriger. Einige zentrale Indikatoren zeigen das auch. So z.B. über 27% Jugendarbeitslosigkeit oder der Verlust von 725.000 Arbeitsplätzen im Jahr 2019.

Der Mindestlohn wird in der Türkei jedes Jahr für das nächste Jahr ausverhandelt

Das Monatseinkommen wurde für 2020 auf 2.324 Lira netto gesetzt, also umgerechnet  350 Euro. Ein Anstieg von 5,3%, was angeblich die Inflationsrate eines für Mindestlohn arbeitenden Menschen sein soll, aber das ist höchst fraglich. Der Mindestlohn hat in der Türkei eine besondere Bedeutung weil fast 40% der abhängig Beschäftigten nur nach ihm entlohnt werden.

Darüber hinaus hat die neoliberale Umstrukturierung der Türkei seit 1980, vor allem aber in der AKP-Periode seit 2002, zu einer enormen Zunahme von Privatverschuldung und prekären Arbeitsverhältnissen geführt. Der neoliberale Kapitalismus tötet hier im direkten Sinne: die Zahl der Arbeitsunfälle, die richtigerweise als Arbeitsmorde bezeichnet werden sollten, belaufen sich teilweise auf 1.500 bis 2.000 pro Jahr. In den ersten 10 Monaten des Jahres 2019 waren es über 1.600 Menschen, die am Arbeitsplatz oder am Weg dorthin ums Leben gekommen sind. Die enormen Schulden und die Hoffnungslosigkeit vieler Menschen haben außerdem in den letzten Monaten zu einem Anstieg an Suiziden geführt, die oft auch direkt mit Verweis auf die ökonomische Lage begründet wurden.

KOMpass: Und wie sieht es mit der Klassenbewegung aus?
Max Zirngast: Wir müssen differenzieren zwischen der gewerkschaftlichen Bewegung und der Klasse. Der gewerkschaftliche Organisierungsgrad ist in der Türkei extrem nieder. Aziz Çelik, führender Experte für Gewerkschaftsgeschichte, sprach im Jahr 2017 von einem Organisierungsgrad von 12%, jedoch nur 10,3% wenn der informelle Sektor dazugerechnet wird. Die 12% sind ein Anstieg gegenüber 9,2% im Jahr 2013. Aber der Anstieg war großteils vom künstlich aufgeblasenen Wachstum von Gewerkschaftskonföderationen bedingt, die kaum noch als gelbe Gewerkschaften zu bezeichnen sind, sondern direkt dem Regime um Erdoğan angebunden sind. Gewerkschaftliche Organisierung heißt realiter zugleich nicht einmal immer, dass die organisierten ArbeiterInnen Kollektivverträge haben.

Die linken Gewerkschaftsverbände DISK (Privatsektor) und KESK (öffentlicher Sektor) sind darüber hinaus stark unter Beschuss von Seite des Staates. Mit Ausnahme einiger Sektoren sind ihnen Großteils die Hände gebunden. Das heißt aber nicht, dass die abhängig Beschäftigten still sitzen und ihr Schicksal hinnehmen. Die Anzahl von Streiks und Protesten hat in den letzten Monaten, auch angesichts der ökonomischen Lage, stark zugenommen. Es gibt auch eine Reihe an unabhängigen Intiativen der kollektiven Selbstorganisierung von ArbeiterInnen.

Es gibt also durchaus Hoffnung, dass die Klassenbewegung und die anderen gesellschaftlichen Bewegungen zusammen kommen und eine genuine Demokratisierung der Türkei erkämpfen können.

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