Portugal im Dauer-Kampf

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100.000 DemonstrantInnen am 9. Juni 2018 auf den Strassen Lisboas.

Portugiesische Verhältnisse ■ 35-Stunden-Arbeitswoche für alle, für menschenwürdige Jobs – und mehr Geld, mindestens 650 Euro im Monat! Die PortugiesInnen kämpfen für ihre Rechte und eine bessere Arbeitswelt. Der Minderheits-Regierung des Sozialisten (Sozialdemokraten) Antonio Costa bläst ein scharfer, kalter Atlantikwind um die Ohren. Es vergeht keine Woche ohne Streiks und Kundgebungen.
Aus Lisboa berichtet Martin Wachter

Spitalspersonal, Beschäftigte im Bildungswesen und im Staatsdienst, bei Polizei und beim Militär, bei der Müllabfuhr, bei Eisenbahn und den U-Bahnen in Porto und Lisboa, 3.000 ArbeiterInnen von Volkswagen Portugal und vorallem Handelsangestellte und das Personal in der Tourismus-Branche sind wütend.

A luta continua – Alle auf die Straße! So erkämpft die CGTP IN soziale Fortschritte und Erfolge für ein besseres Leben.

Damit Portugal nicht das Armenhaus im Südwesten Europas bleibt, führen die kommunistisch ausgerichteten Gewerkschaftsorganisationen von der CGTP IN: Confederação Geral de Trabalhadores Portugueses – Intersindical Nacional einen unermüdlichen und zähen Kampf. Ihr voller Einsatz für die Rechte der arbeitenden Menschen und für soziale Gerechtigkeit in Lousitianien ist seit der Nelkenrevolutiion im Jahre 1974 und auch während ihrer illegalen Tätigkeit in der faschistischen Salazar Diktatur ein allgemein anerkannter Faktor. Seit eh und je können sich die OrganisatorInnen von der CGTP IN auf ein breites Bündnis in der Bevölkerung und in ihren über 100 Teilorganisationen strukturierten fortschrittlichen Gewerkschaftsverband mit um die 700.000 Mitgliedern verlassen.

Zum Viertenmal innerhalb der letzten zwei Monate gingen in Lisboa über 50.000 DemonstrantInnen für menschenwürdige Arbeit und Leben auf die Strasse. Am 9. Juni 2018 waren es sowie auch am 1. Mai um die 100.000, die die Avenida de Rebublica bzw. den Platz vor dem Stadion und Sportkomplex 1.de Maio von oben bis unten zur „Kampfzone” für soziale Gerechtigkeit umfunktionierten. In 40 Städten des Landes wurden ebenfalls Kundgebungen und Demos für die Rechte der Werktätigen organisiert und durchgeführt. Drei Wochen vorher am 19. Mai demonstrierten auf der Lissaboner Avenida de Liberdade über 50.000 LehrerInnen und Beschäftigte des Bildungsbereichs für bessere Arbeitsbedingungen und für mehr Geld.

Ohne Kampf und Massenbeteiligung, ohne vielzählige Arbeitsniederlegungen und ohne Protest, Kundgebungen und mühevoller Kleinarbeit geht in Portugal gar nix. Immerhin wurden der soziale Kahlschlag durch die Sparauflagen der Trojka aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Kommission und die menschenverachtenden Massnahmen der konservativen rechten Regierung von 2011 bis 2015 beendet. Lohn- und Gehaltskürzungen wurden zurückgenommen. Die vier abgeschafften Feiertage sind jetzt wieder gesetzlich verankert. Einen 13. und 14. Monatsgehalt gibt es zumindesten im öffentlichen Dienst wieder. Die große Anzahl an öffentlich Bediensteten freut sich über die Einführung der 35-Stunden-Woche. In der Privatwirtschaft allerdings sind die Werktätigen reinster Wilkür durch Bosse und FirmeneigentümerInnen ausgesetzt. Mit Vehemenz fordert das Volk bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Rechte ein: Mehr Geld am Monatsende sowieso vorallem die gesetzliche Wiederherstellung des ersatzlos abgeschafften Arbeitsrechts, das den Vollzeit- und den massenhaft prekär- und geringfügig Beschäftigten eine Arbeit in Würde und geregelten Verhältnissen garantiert. Seit 2012 herrscht in der Arbeitswelt das Faustrecht beziehungsweise die arbeitsrechtliche Diktatur des „Kapitals”.

Portugals sozialdemokratische Regierung setzt den Sparkurs in abgemilderter Form auf Biegen und Brechen fort.

„35 Stunden-Woche für alle” schallt es bei Demos im ganzen Land zehntausend-, ja hunterttausendfach. Genauso wie der Ruf nach mindestens 650 Euro Mindestlohn überall im Wort und Schrift zu hören und zu lesen ist. Ein Manko in der portugiesischen ArbeiterInnenbewegung ist die Aufspaltung der Gewerkschaftsorganisationen.
Der zweitgrösste Verband die UGT, União Geral de Trabalhadores steht der Sozialistischen Partei nahe. Die UGT zählt über 50 Einzel- und Untergewerkschaften. Mit um die 400.000 Mitglieder vertritt sie hauptsächlich die Interessen der öffentlich Bediensteten. Dieser Sektor stellt auch die Hälfte der Mitglieder der sozialdemokratischen Gewerkschaftsorganisation. 80.000 UGTler sind im Finanzsektor und in den Banken tätig. Auch deshalb sitzt das Steuergeld zur „Bankenrettung” etwas locker in Portugals Regierungsteam, die nicht selten zur „Linksregierung” hochstilisiert wird.

SMN
Die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns von 580 Euro auf mindestens 650 Euro war eine der zentralen Forderungen auf der Massendemo. © Wachter

Eine „Linksregierung”, die keine solche ist, wird von mehreren internationalen und landesweiten Medien und europäischen SystempolitikerInnen für ihre Politik in Portugal gelobt. Die Fakten schauen aber ganz anders aus. Portugals sozialdemokratische Regierung setzt den Sparkurs auf Biegen und Brechen fort. Internationalen Verpflichtungen zu folge sind in den nächsten sieben Jahren 35 Milliarden Euro nur für Zinsen an die großen europäischen Banken zu zahlen. Trotz dieser fünf Milliarden im Jahr verringert sich die Staatsschuld um keinen Cent. Also wird munter und weiter Volkseigentum den privaten Anlegern zugeschoben. Staatsinvestitionen werden so gut wie gar nicht mehr beschlossen. Jedes Jahr gibt Portugals Finazminister zwei Milliarden für PPP (Public Private Partnerschaft) aus. Das ist eben Privatisierung mit anderen Mitteln. Ja, und einige marode Banken lassen sich ihre Spekulations-Schulden Jahr für Jahr heimlich still und leise mit ein paar Milliarden Euro von den SteuerzahlerInnen des Landes begleichen. Wegen der enormen Zinsenlast stieg die gesamte Staatsverschuldung von Ende 2014 mit 226 Milliarden Euro in den folgenden fünf Jahren um 17,5 Milliarden.

2019 sind die nächsten Parlamentswahlen fällig. Die von Kommunisten, Grünen, Linksblock und Tierschutzpartei (WählerInnenanteil von über 20 Prozent der Stimmen) geduldete Regierung hat die vier Jahre nur wegen der zweistelligen Prozent Zuwächse im Tourismus ohne gröbere Kalamitäten überstanden. Die Milliarden Euro aus den Steuereinnahmen im Fremdenverkehr sind so gut wie gar nicht beim Volk angekommen. 2017 liess die Regierungspartei landauf landab die „Erfolgsmeldundg”: „2,1 Prozent Wirtschaftswachstum” großflächig plakatieren. Im Mai 2018 lautet die Plakatbotschaft der PS mit einem verschwommenen Volksfoto samt grosser roter Rose mittendrin nur mehr: „Ein Land für alle”.

Eine Million PortugiesiInnen hat das Land verlassen. 22,1 Prozent der Jugendlichen sind noch immer ohne Job.

„Im Land für alle” schaut es für die Werktätigen, Arbeitslosen, Frauen, Pensionisten und Jugendlichen triste aus. Wer Arbeit hat, schuftet 45 bis 60 Stunden in der Woche für wenig Geld und ohne Rechte.
Beispiel gefällig: Fatima, 20-jährig arbeitet in einem großem Hotelkomplex an der Algarve. Die vielseitig begabte junge Frau macht im Hotel Gästebetreuung für Jung und Alt. Mehrmals pro Woche ist sie als Sängerin und Tänzerin im ressorteigenen Unterhaltungsprogramm aktiv. Sie hat einen sechsmonatigen Arbeitsvertrag für 620 Euro brutto. Da ist die „Abgeltung” des 13. und 14. Monatsgehalt schon inklusive. Anteilige Urlaubstage, nix da. Sonn- und Feiertagszulagen auch nix. Offiziell eine 48-Stundenwoche und sechs „Werktage”. Und jetzt aufgepasst! Arbeitsablauf: nur ein Tag pro Woche ist frei, meistens Freitags. Samstag beginnt die Arbeit für Fatima um 14 Uhr und endet offiziell um 22 Uhr, bei kultureller Tätigkeit aber erst nach 23 Uhr. Sonntag ist Arbeitsbeginn um 10 Uhr Vormittag und endet offiziell um 19 Uhr. Der Dienstschluss verzögert sich des öfteren. Montag geht es wieder um 14 Uhr los. Dreimal die Woche derselbe Rhytmus. Das war quasi der 1. Job für das Mädchen. In der folgenden diesjährigen Saison 2018 hat sich die „Firma” nichteinmal bei Fatima gemeldet. Die Hotelexterne „Unterhaltungsabteilung” wurde über Neujahr ausgetauscht.

In den letzten zehn Jahren haben über eine Million PortugiesInnen, damals 11,5 Millionen Einwohner, das Land verlassen. Mitte 2018 sind noch 22,1 Prozent der Jugendlichen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren ohne Job. Das ist aus Zahlen der portugiesischen StatistikerInnen von INE ersichtlich. Rapide nach oben geht auch die Zahl der MindestlohnempfängerInnen, der geringfügig Beschäftigten und der LeiharbeiterInnen. Die 40 Prozent Marke wird bald erreicht sein. Der gesetzliche Mindestlohn ist bereits für ein Drittel der lousitanischen Werktätigen die „normale” Beschäftigungsform. Ohne Arbeitszeitregelung beträgt die Monatsentschädigung für harte Arbeit 580,- Euro brutto. Mit einem guten Hunderter Abzug für Steuer, Kranken- und Pensionsversicherung bleiben dann um die 450 Euro netto im Monat.

Sechstägiger Arbeitsmarathon von 72 Stunden die Woche löhnt sich in der Brieftasche mit mageren 1.500 Euro.

Sharif, ein Inder musste nach sieben Jahren Arbeit die Schweiz verlassen, weil er sonst ab dem achten Aufenthaltsjahr einen formal-theoretischen Anspruch auf die Eidgenössische Staatsbürgerschaft gehabt hätte. Jetzt kellnert er schon über vier Jahre in einem sehr großen Gastronomiebetrieb an der Algarve. Sechs-Tage-Woche und immer eine 12-Stunden-Schicht. Das sind also sage und schreibe 72 Stunden die Woche. Als Sous-Chef verdient er im Monat für diesen Arbeitsmarathon 1.500 Euro. Sharif hat die portugiesiche Staatsbürgerschaft beantragt. Diese wird er von Gesetz wegen nach fünf Jahren bekommen. Mit dem portugiesischen Pass sagt er, kann er als EU-Bürger höchstwahrscheinlich wieder zurück in die Schweiz. Aber auch Frankreich und andere Länder wären ein Offert. Sharif spricht sieben Sprachen perfekt in Wort und Schrift. Das ist sein „Kapital für bessere Arbeit und mehr Einkommen“. In Portugal will er nicht bleiben.

Bis es in Portugal wieder eine halbwegs geordnete Arbeitswelt und eine optimistische geprägte Zukunft gibt, wird noch viel Wasser den Tejo hinunterfliessen. Aber die Kraft des Volkes ist nicht zu unterschätzen. Immerhin waren die PortugallierInnen auch mit ihrer „Nelkenrevolution” vor 44 Jahren erfolgreich.

 

 

 

Ein Gedanke zu “Portugal im Dauer-Kampf

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